Montag, November 13, 2006

Chinesisches Märchen


Als ein Krieg zwischen zwei benachbarten Ländern unvermeidlich schien, sandten die Könige Späher in das Nachbarland. Sie sollten erkunden, wo man am leichtesten in das Land einfallen konnte. Die Kundschafter kehrten zurück und berichteten beiden Königen dasselbe: Es gäbe nur eine Stelle, die sich dafür eigne. Dort aber lebe ein junger Bauer mit seiner Frau und seinem Kind und es hieße, sie seien die glücklichsten Menschen auf Erden. Wenn nun aber unsere Heerscharen über diese Grundstücke marschieren, dann zerstören sie das Glück. Also kann es keinen Krieg geben. Das sahen die Könige ein. Und so gab es keinen Krieg – wie jeder Mensch begreifen wird.


Samstag, Juni 17, 2006

Die vertauschte Braut


An einem einsamen Ort, abseits von anderen Menschen, lebte in alten Zeiten ein verwitweter Schuster mit seiner einzigen Tochter.

Da ließ eine böse Witwe durch andere Leute dem Schuster bestellen, dass sie ihn gern heiraten möchte. Die Tochter bat aber den Vater mit Tränen in den Augen, diese Frau zu meiden, denn alle guten Menschen sagten, dass sie eine Hexe sei.

Schließlich hatte der Schuster das Gerede der Leute satt, holte einen zerrissenen Stiefel unter dem Tisch hervor, warf ihn der Tochter zu und sagte: „Wenn dieser Stiefel Wasser hält, so dass kein Tropfen Wasser auf die Erde fällt, dann werde ich die Frau freien.“

Die Tochter lief guter Dinge, den Befehl des Vaters auszuführen, denn mit einem so zerrissenen Stiefel würde man nicht mal eine Handvoll Wasser schöpfen können. Sie meinte: Ehe ich drei Schritte vom Brunnen fort bin, ist der Stiefel leer.

Doch schau nur – sobald sie das Wasser hineingegossen hatte, war der Stiefel wie zugelötet, und kein Tropfen floss aus den Löchern heraus.

So war wirklich anzunehmen, dass die Witwe eine Hexe war. Der Schuster hatte aber nun mal sein Versprechen gegeben und konnte es jetzt nicht mehr brechen; er war gewohnt, sein Wort zu halten. Ungeachtet der Bitten der Tochter freite er die böse Witwe, die ebenfalls eine Tochter hatte.

Zwischen den beiden Kindern gab es freilich einen Unterschied: den nämlich, dass die Tochter der Stiefmutter hässlich und schwarz, die Schusterstochter aber schön wie ein Blütenzweig war.

Am ersten Tag nach der Hochzeit zeigte sich die Stiefmutter der Tochter ihres Mannes gegenüber sehr freundlich. Sie gab ihr am Morgen frische Milch zum Gesichtwaschen, und sie ließ die eigene Tochter die andere bedienen, was allerdings der Stieftochter gar nicht angenehm war.

Am nächsten Tag kam es freilich schon etwas anders. Die Stiefmutter ließ die Tochter ihres Mannes nun nicht länger schlafen und gab ihr auch keine Milch mehr zum Gesichtwaschen.

Am dritten Tag aber wurde es ganz schlimm: Sie wurde noch vor Morgengrauen beim ersten Hahnenschrei geweckt und musste ihre Halbschwester bedienen. Jetzt gab die Stiefmutter jeden Tag ihrer hässlichen und bösen Tochter frische Milch zum Trinken und zum Gesichtwaschen. Die Stieftochter dagegen musste sich mit trockenen Brotkrusten begnügen. Sie trieb ihre Stieftochter überall an, wo es nur möglich war, obwohl diese ganz von allein fleißig arbeitete.

Der Neid und der Hass der Stiefmutter wuchsen von Tag zu Tag mit der Schönheit der Stieftochter. Schließlich konnte sie die andere überhaupt nicht mehr sehen und suchte nach einer Gelegenheit sie aus dem Hause zu treiben.An einem Wintertag, bei Schneegestöber, trat die Stiefmutter wieder an die Stieftochter heran, reichte ihr aus Papier gefertigte Kleider und sagte: „Du musst jetzt diese Kleider anziehen und darfst nicht eher zurückkehren, als bis du mir einen Korb voll frischer Erdbeeren herbringst.“

Mit diesen Worten nahem sie der Stieftochter alle Kleider weg und gab ihr ein Kleid aus Papier sowie einen großen Korb, in dem trockene Brotkrusten als Mittagessen lagen. Die Stieftochter nahm aber die Sachen dankend entgegen und trat mit Tränen in den Augen auf den Hof, wo der starke Frost sie zu zerreißen drohte.

Sie begann zu laufen, um sich zu erwärmen, und gelangte schließlich vor ein sauberes Haus, in dem mehrere Graugekleidete alte Männer saßen. Sie begrüßte sie, wünschte ihnen Kraft zur Arbeit und bat sie um Erlaubnis, sich ein wenig aufwärmen zu dürfen. Die Männer traten von der Ofenöffnung zurück und ließen das Mädchen sich wärmen. Die Stieftochter nahm die trockenen Brotkrusten aus dem Korb und begann zu essen.

Da sagte einer der Alten: „Was isst du da? Gibst du uns auch etwas ab?“

Das Mädchen antwortete freundlich: „Gern würde ich euch etwas geben, wenn ich nur etwas zu geben hätte; aber ich muss selbst trockene Krusten nagen, die keinem schmecken würden. Doch wenn ihr es nur wünscht, so will ich gern mein Mittagsbrot mit euch teilen.“

Mit diesen Worten gab sie jedem Alten von dem, was sie bei sich hatte, vergoss aber zugleich bittere Tränen dabei. Ein Alter fragte, warum sie weine, und das Mädchen erzählte ihm von seinem Leid.

„Aber das ist doch gar nicht schlimm!“ sagte der Alte. „Nimm dort die Schaufel und den Besen, fege den Hof frei vom Schnee, und schon wirst du Erdbeeren finden.“

Das Mädchen tat alles, wie ihm befohlen wurde, und fand unter dem Schnee so viele Erdbeeren, wie es noch nie in seinem Leben gesehen hatte. Bald war der Korb voll, das Mädchen bedankte sich, nahm von den Männern Abschied und eilte nach Hause. Die Männer schauten ihr lange nach.

Schließlich sagte einer von ihnen: „Wünschen wir jeder diesem guten Mädchen etwas zum Andenken.“

Der erste sagte: „Ich wünsche, dass ihr mit jedem ersten Wort, mit dem sie zu sprechen beginnt, ein Goldstück aus dem Munde fällt.“

Der zweite sagte: „Ich wünsche, dass das Mädchen mit jedem Tag noch schöner wird.“

Der dritte: „Dass sie einmal die Frau eines Königs wird.“

Der vierte wünschte, dass sie mit jedem Tag schlanker werde, und der fünfte, dass sie unterwegs warme Kleider bekomme.

Die Stiefmutter saß gerade am Fenster, als die Tochter mit dem Korb Erdbeeren nach Hause kam.

Als sie das Mädchen in so feinen Kleidern sah, glaubte sie, mit ihr sei etwas Außergewöhnliches geschehen, und eilte der Stieftochter freundlich entgegen. Sie brachte sie in die Stube, machte ihr Eierkuchen, setzte sie vor den Ofen und forderte sie auf zu erzählen, wo sie die vielen Erdbeeren herhabe. Sie dachte daran, am nächsten Tag auch die eigene Tochter nach den Beeren zu schien.

Die Stieftochter begann zu sprechen, und ein Goldstück fiel ihr aus dem Munde. Sie erschrak selbst, doch noch mehr erschrak die Stiefmutter. Äußerlich blieb sie wohl freundlich, doch im Herzen wünschte sie der Stieftochter Verderben. Sie wünschte auch ihrer eigenen Tochter ein solches Glück, ließ sie die warmen Kleider anziehen, die die Stieftochter erhalten hatte, buk ihr Eierkuchen und schickte sie auf den Weg, den ihr die Stieftochter beschrieben musste.

Die Tochter gelangte ebenfalls an das Haus, das ihr die Halbschwester bezeichnet hatte. Sie ging an dem hässlichsten Alten wortlos vorbei, und einen anderen, der vor dem Ofenloch saß, schrie sie mit böser Stimme an: „Pack dich, Halunke, hast hier lange genug geschmort, lass nun mich an die Wärme!“

Wortlos erfüllte der Alte den Befehl. Die hässliche Tochter setzte sich vor das Ofenloch und begann das schmackhafte Mittagessen zu verzehren.

Die Alten traten näher und baten auch um ein Stückchen.

Die hässliche Tochter jedoch erwiderte: „Habe ich vielleicht die Eierkuchen deshalb hergeschleppt, um sie an euch zu verfüttern? Haltet´s Maul und lasst mich essen!“

Als sie gegessen hatte, sagte sie herrisch: „Zeig mir jetzt, wo man hier Erdbeeren finden kann!“

Ein Alter erwiderte: „Nimm dir dort die Schaufel und den Besen und fege den Schnee vom Hof, bis er ganz schneefrei ist; dann wirst du finden, was du wünschst!“

„Das könnte euch so passen; selbst wollt ihr euren Hof nicht ausfegen, und da soll ich es für euch tun, daraus wird aber nichts.“

Mit diesen Worten trat sie aus der Tür hinaus, und einer der Alten sprach: „Wünschen auch wir ihr etwas zum Andenken an ihren Besuch.“

Der erste sagte: „Mit dem ersten Wort einer jeden Rede, soll ihr eine Kröte aus dem Mund fallen!“

Der zweite: „Sie soll mit jedem Tag hässlicher werden!“

Der dritte: „Sie soll niemals heiraten!“

Als die Tochter nach Hause kam und zu sprechen begann, fiel ihr eine Kröte aus dem Munde und sprang zur Tür hinaus. Seit dieser Zeit gibt es auch Kröten auf dieser Welt.

Nun fing die Stiefmutter an, ihre Stieftochter noch mehr zu hassen und mit Arbeiten zu quälen; sie gab ihr keine Seife mehr zum Kleiderwaschen und verlangte, dass die Kleider dennoch sauber gewaschen sein sollten.

Eines Tages wusch die Stieftochter noch am späten Abend am Brunnen, als ein fremder, schöner junger Mann an sie herantrat und sie nach dem Wege fragte.

Sobald sie zu sprechen begann, fiel ein Goldstück in den Schlitten des fremden Mannes, der kein andrer war, als der junge König dieses Landes.

Der König staunte sehr über die Schönheit des Mädchens und wollte sie zur Frau nehmen. Er bat sie, mit ihr zu ihren Eltern zu gehen, doch das Mädchen wollte das nicht, und sie flohen heimlich.

Bald wurde eine schöne Hochzeit gefeiert, und der König war froh, eine so schöne Frau bekommen zu haben, wie man keine zweite finden konnte.

Das junge Paar lebte eine Weile glücklich, doch schließlich fand die die böse Stiefmutter ihre Stieftochter wieder und begann sie nun noch mehr zu hassen. Aber sie konnte auf keine Weise an sie herankommen.

Einmal jedoch, als die Königinniederkommen sollte, trat eine sehr ordentlich gekleidete Alte an den König heran und bot sich an, der Königin in ihrer schweren Stunde zu helfen. Der König nahm das Angebot mit Freude an und vertraute seine Gemahlin vollständig der Pflege der Alten an.

Am nächsten Morgen verkündete man dem ganzen Volk die Freudenbotschaft, dass die Königin einen schönen gesunden Sohn zur Welt gebracht habe.

Der König kam oft seine Frau zu besuchen. So konnte die böse Hexe der Frau des Königs nichts antun.

Einmal gab sie dem König den Rat, er möchte seine Frau mit ihr zusammen in die Badestube schicken, denn sonst würde sie nicht gesund werden. Der König erfüllte ihren Wunsch und schickte seine Frau in die Badestube. Doch sobald sie in die Badestube gelangten, brachte die böse Hexe die Frau des Königs um und setzte die eigene hässliche Tochter an ihre Stelle.

Der König erschrak sehr, als er seine Frau so verändert fand. Aber die schlaue Alte verstand es mit listigen Reden, ihn irrezuleiten, so dass er glaubte, es sei wirklich seine Frau, die durch die Krankheit hässlich geworden sei.

Der Koch bemerkte, dass die Königin die ganze Nacht hindurch beim Licht wachte.

Er wurde neugierig und wollte wissen, was die Königin dort mache.

Plötzlich flog eine Buntgefiederte Ente durch das Fenster hinein, drehte sich dreimal mit dem Kopf gegen Norden, und schon stand die frühere Königin vor dem Bett des Kindes, nahm es heraus, nährte und herzte es, verwandelte sich dann zurück in die Ente und flog wieder davon.

So kam sie jede Nacht um ihr Kind zu besuchen.

Schließlich trat der Koch an die Königin heran und fragte, wieso die richtige Königin sich in eine Ente verwandle und warum ein fremder Mensch an ihrer Stelle im Krankenbett liege.

Die Frau des Königs erzählte, auf welche Weise die böse Stiefmutter sie hintergangen und die eigenen Tochter an ihre Stelle gesetzt hatte.

„Aber wenn der König mich zurückhaben möchte, so soll er sein Schwert nehmen und mir, wenn ich Hereinfliege, den Kopf abhauen, dann werde ich wieder zum Menschen. Wenn er es aber in der kommenden Nacht nicht tut, so wird er mich für immer verlieren, denn morgen ist es die letzte Nacht, in der ich das Kind besuchen kann.“

Der Koch erzählte dem König, was er gehört und gesehen hatte, und am nächsten Abend stand der König schon zeitig bereit. Sobald die Ente hereinflog, schlug er ihr mit dem Schwert den Kopf ab, und seine frühere Frau stand vor ihm.

Jetzt nahm er die falsche Königin und ihre Mutter und ließ sie zusammen in ein Fass aus Eichenholz stecken, das mit eisernen Nägeln gespickt war, so dass das Fass innen einer Wolfsfalle glich. Man ließ sie im Fass von einem Berg ins Meer hinabrollen. So fand die böse Hexe ihr Ende.


Aus: Estnische Volkmärchen, Diederichs 1990, Nr. 53

Samstag, Mai 20, 2006

Spindel, Weberschiffchen und Nadel

188. KHM

Es war einmal ein Mädchen, dem starb Vater und Mutter, als es noch ein kleines Mädchen war. Am Ende des Dorfes wohnte in einem Häuschen ganz allein seine Pate, die sich von Spinnen, Weben und Nähen ernährte. Die Alte nahm das Kind zu sich, hielt es zur Arbeit an und erzog es in aller Frömmigkeit. Als das Mädchen fünfzehn Jahre alt war, erkrankte sie, rief das Kind an ihr Bett und sagte: „Liebe Tochter, ich fühle, dass mein Ende herannaht, ich hinterlasse dir das Häuschen, darin bist du vor Wind und Wetter geschützt, dazu Spindel, Weberschiffchen und Nadel, damit kannst du dir dein Brot verdienen.“ Sie legte noch die Hände auf seinen Kopf, segnete es und sprach: “ Behalt nur Gott in deinem Herzen, so wird dir´s wohl gehen.“ Darauf schloss sie die Augen, und als sie zur Erde bestattet wurde, ging das Mädchen bitterlich weinend hinter dem Sarg und erwies ihr die letzte Ehre.

Das Mädchen lebte nun in dem kleinen Haus ganz allein, war fleißig, spann, webte und nähte, und auf allem, was es tat, ruhte der Segen der guten Alten. Es war, als ob sich der Flachs in der Kammer von selbst mehrte, und wie sie ein Stück Tuch oder einen Teppich gewebt oder ein Hemd genäht hatte, so fand sich gleich ein Käufer, der es reichlich bezahlte, so dass es keine Not empfand und andern noch etwas mitteilen konnte.

Um diese Zeit zog der Sohn des Königs im Land umher und wollte sich eine Braut suchen. Eine arme sollte er nicht wählen, und eine reiche wollte er nicht. Da sprach er: „Die soll meine Frau werden, die zugleich die ärmste und die reichste ist.“ Als er in das Dorf kam, wo das Mädchen lebte, fragte er, wie er überall tat, wer in dem Ort die reichste und ärmste wäre. Sie nannten ihm die reichste zuerst; die ärmste, sagten sie, wäre das Mädchen, das in dem kleinen Haus ganz am Ende wohnte. Die Reiche saß vor der Haustür in vollem Putz, und als der Königssohn sich näherte, stand sie auf, ging ihm entgegen und neigte sich vor ihm. Er sah sie an, sprach kein Wort und ritt weiter. Als er zu dem Haus der Armen kam, stand das Mädchen nicht an der Türe, sondern saß in seinem Stübchen. Er hielt das Pferd an und sah durch das Fenster, durch das die helle Sonne schien, das Mädchen an dem Spinnrad sitzen und emsig spinnen. Es blickte auf, und als es bemerkte, dass der Königssohn hereinschaute, ward es über und über rot, schlug die Augen nieder und spann weiter; ob der Faden diesmal ganz gleich ward, weiß ich nicht, aber es spann so lange, bis der Königssohn wieder weg geritten war. Dann trat es ans Fenster, öffnete es und sagte: „Es ist so heiß in der Stube“, aber es blickte ihm nach, so lange es noch die weißen Federn an seinem Hut sehen konnte.

Das Mädchen setzte sich wieder in seine Stube zur Arbeit und spann weiter. Da kam ihm ein Spruch in den Sinn, den die Alte manchmal gesagt hatte, wenn es bei der Arbeit saß, und es sang so vor sich hin:

„Spindel, Spindel, geh du aus,

bring den Freier in mein Haus.“

Was geschah? Die Spindel sprang ihm augenblicklich aus der Hand und zur Türe hinaus; und als es vor Verwunderung aufstand und ihr nachblickte, so sah es, dass sie lustig in das Feld hineintanzte und einen glänzenden goldenen Faden hinter sich herzog. Nicht lange, so war sie ihm aus den Augen entschwunden. Das Mädchen, da es keine Spindel mehr hatte, nahm das Weberschiffchen in die Hand, setzte sich an den Webstuhl und fing an zu weben.

Die Spindel aber tanzte immer weiter, und eben, als der Faden zu Ende war, hatte sie den Königssohn erreicht. „Was sehe ich?“ rief er. „Die Spindel will mir wohl den Weg zeigen?“ Drehte sein Pferd um und ritt an dem goldenen Faden zurück. Das Mädchen aber saß an seiner Arbeit und sang:

„Schiffchen, Schiffchen webe fein,

führ den Freier mir herein.“

Alsbald sprang ihr das Schiffchen aus der Hand und sprang zur Türe hinaus. Vor der Türschwelle aber fing es an, einen Teppich zu weben, schöner, als man je einen gesehen hat. Auf beiden Seiten blühten Rosen und Lilien, und in der Mitte auf goldenem Grund stiegen grüne Ranken herauf, darin sprangen Hasen und Kaninchen; Hirsche und Rehe streckten die Köpfe dazwischen; oben in den Zweigen saßen bunte Vögel; es fehlte nichts, als dass sie gesungen hätten. Das Schiffchen sprang hin und her, und es war, als wüchse alles von selber.

Weil das Schiffchen fortgelaufen war, hatte sich das Mädchen zum Nähen hingesetzt; es hielt die Nadel in der Hand und sang:

„Nadel, Nadel, spitz und fein,

mach das Haus dem Freier rein.“

Da sprang ihr die Nadel aus den Fingern und flog in der Stube hin und her, so schnell wie der Blitz. Es war nicht anders, als wenn unsichtbare Geister arbeiteten, alsbald überzogen sich Tisch und Bänke mit grünem Tuch, die Stühle mit Sammet, und an den Fenstern hingen seidene Vorhänge herab. Kaum hatte die Nadel den letzten Stich getan, so sah das Mädchen schon durch das Fenster die weißen Federn von dem Hut des Königssohns, den die Spindel an dem goldenen Faden herbeigeholt hatte. Er stieg ab, schritt über den Teppich in das Haus herein, und als er in die Stube trat, stand das Mädchen da in seinem ärmlichen Kleid, aber es glühte wie eine Rose im Busch. „Du bist die Ärmste und auch die Reichste“, sprach er zu ihr, „komm mit mir, du sollst meine Braut sein.“ Sie schwieg, aber sie reichte ihm die Hand. Da gab er ihr einen Kuss, führte sie hinaus, hob sie auf sein Pferd und brachte sie in das königliche Schloss, wo die Hochzeit mit großer Freude gefeiert ward. Spindel, Weberschiffchen und Nadel wurden in der Schatzkammer verwahrt und in großen Ehren gehalten.

Samstag, April 08, 2006

Die weisse Taube


Vor eines Königs Palast stand ein prächtiger Birnbaum, der trug jedes Jahr die schönsten Früchte, aber wenn sie reif waren, wurden sie in der Nacht alle geholt, und kein Mensch wusste, wer es getan hatte. Der König aber hatte drei Söhne, davon ward der jüngste für einfältig gehalten und hieß der Dummling. Da befahl er dem ältesten, er solle ein Jahr lang alle Nacht unter dem Birnbaum wachen, damit der Dieb einmal entdeckt werde. Der tat das auch und wachte alle Nacht, der Baum blühte und war ganz voll von Früchten, und wie sie anfingen reif zu werden, wachte er noch fleißiger, und endlich waren sie ganz reif und sollten am anderen Tag abgebrochen werden. In der letzten Nacht aber überfiel ihn ein Schlaf, und wie er aufwachte, waren alle Früchte fort und nur die Blätter noch übrig. Da befahl der König dem zweiten Sohn, ein Jahr zu wachen. Dem ging es nicht besser als dem ersten; in der letzten Nacht konnte er sich des Schlafes gar nicht erwehren, und am Morgen waren die Birnen alle abgebrochen. Endlich befahl der König dem Dummling, ein Jahr zu wachen, darüber lachten alle, die an des Königs Hof waren. Der Dummling aber wachte, und in der letzten Nacht wehrt' er sich den Schlaf ab, da sah er, wie eine weiße Taube geflogen kam, eine Birne nach der anderen abpickte und fort trug. Und als sie mit der letzten fort flog, stand der Dummling auf und ging ihr nach. Die Taube flog aber auf einen hohen Berg und verschwand auf einmal in einem Felsenritz. Der Dummling sah sich um, da stand ein kleines graues Männchen neben ihm, zu dem sprach er: "Gott gesegne dich!" "Gott hat mich gesegnet in diesem Augenblick durch diese deine Worte", antwortete das Männchen," denn sie haben mich erlöst. Steig du in den Felsen hinab, da wirst du dein Glück finden." Der Dummling trat in den Felsen, viele Stufen führten ihn hinunter, und wie er unten hinkam, sah er die weiße Taube ganz von Spinnweben umstrickt und zugewebt. Wie sie ihn aber erblickte, brach sie hindurch, und als sie den letzten Faden zerrissen, stand eine schöne Prinzessin vor ihm, die hatte er auch erlöst, und sie ward seine Gemahlin und er ein reicher König und regierte sein Land mit Weisheit.

Mittwoch, Februar 15, 2006

Delfin

In der griechischen Mythologie tauchen Delfine als Totemtier der Göttin Demeter auf. Als der Sonnengott Apollon auf einer Insel mitten im Meer geboren wurde, wurde er anschließend von einem Delfin an Land gebracht. Als Sternbild in den Himmel erhoben wurde der Delfin, weil er Poseidon half, die Hand der Meeresnymphe Amphitrite zu gewinnen. In vielen altgriechischen Darstellungen ritten die Nereiden auf dem Rücken von Delfinen. Der aus Neid über Bord geworfene Sänger Arion von Lesbos wurde der Sage nach von Delfinen gerettet.


Auch in der modernen Mythologie und Esoterik spielen Delfine eine erhebliche Rolle. Insbesondere der amerikanische Neurophysiologe John Cunningham Lilly, der in den sechziger und siebziger Jahren obskure Experimente mit Isolationstanks und LSD betrieb und behauptete, so mit Delfinen kommunizieren zu können, machte Delfine zum Symboltier in der Esoterik- und Hippie-Bewegung. In den fünfziger und sechziger Jahren hatte Lilly zunächst wissenschaftlich anerkannte Beiträge zur Kommunikation und zur Verhaltensphysiologie der Delfine geleistet.

Mittwoch, Februar 08, 2006

Die Steine der Tränen (Quechua, Peru)


Als zu Cuzco der Inka Mayta Capac herrschte, lebte in einer der abgelegensten Ortschaften seines unermeßlichen Reiches ein Silberschmied namens Apasanca. Da er in seinem Handwerk ungewöhnlich geschickt war, ein großer Künstler sogar, übergab ihm der Häuptling einen großen Barren Silber, damit er ihm ein paar schöne Geräte daraus fertige. Doch gleich in der ersten Nacht, noch ehe er mit der Arbeit begonnen hatte, drangen Diebe in sein Haus und stahlen den Silberbarren, obwohl Apasanca und zwei Hunde im selben Raume schliefen. Dieser Diebstahl bedeutete für den Silberschmied den Tod, denn für das Silber war er dem Häuptling haftbar mit seinem Leben, nach dem Gesetz des Landes. Und nichts hätte ihn vor der Wut des Häuptlings retten können.


Als er so verzweifelt dasaß und keinen Rat mehr wußte, als sich selber zu entleiben, da klopfte es an die Tür, und herein trat ein uraltes Weiblein.

"Hör mich an, mein Sohn", sagte sie. "Pacha mama, die alles sieht und hört, schickt mich her zu dir. Ich soll dich trösten und ich werde mit dir weinen. Dein Unglück ist auch mein Unglück." Und schon sank das Weiblein zu Boden und fing ganz schrecklich an zu weinen.

Der Silberschmied wußte nicht gleich, was er sagen sollte. Aber sein Erstaunen verwandelte sich plötzlich in ein freudiges Erschrecken. Denn er sah, daß die bitteren Tränen der alten Mutter in dem Augenblick, da sie die Erde berührten, zu lauterem Silber wurden.

Apasanca sammelte die schweren Silbertropfen hastig auf. Er konnte sie gar nicht so rasch aufheben, wie diese seltsame Frau die silbernen Tränen vergoß. Dreimal zwei Hände voll hatte der Schmied schon beisammen, als die Frau zu weinen aufhörte und sagte: "Ich glaube, mein Sohn, für heute hast du genug Silber, um morgen daran zu arbeiten. Sei fleißig und sorge dich nicht mehr. Morgen werde ich wiederkommen und dir neues Silber weinen. Und ich werde so lange kommen, bis die Menge wieder beisammen ist, die dir der Häuptling übergeben hat."

Als sich die alte, gebeugte Frau umwandte und die Hütte wieder verlassen wollte, stieg plötzlich das böse Blut Apasanca zu Kopf und verwirrte seine Sinne. Er warf sich auf die schwächliche Alte, schleuderte sie zu Boden, band ihr Hände und Füße mit festen Riemen und schlug mitleidlos auf sie ein.

Und die alte Frau, die von Pacha mama geschickt worden war, den Silberschmied zu trösten, krümmte sich vor Schmerzen und weinte bitterlich. Aber das hatte Apasanca nur gewollt in seinem Wahn und in seiner Gier nach dem Silber, weil alle Tränen der mißhandelten Frau sich in pures Silber verwandelten. Der rohe Schmied schlug so lange auf die Frau ein, bis ein Hügel von Silbertränen am Boden lag.

Ermüdet hielt Apasanca inne. Die Frau weinte nicht mehr: aus den Klauen dieses grausamen Menschen hatte sie der Tod erlöst - der Silberschmied war an ihr zum Mörder geworden. Er packte das zuschandengeschlagene Bündel und warf die Leiche in den Abgrund.

Zufrieden, daß ihm dies alles so glatt von Händen gegangen war, kehrte er in seine Hütte zu dem Silberhaufen zurück. Doch da durchzuckte es sein Herz wie ein Stich: was vordem eine Menge Silber gewesen war, hatte sich plötzlich zu einem harten Steinblock verwandelt, der wie Tränen schimmerte.

Da hielt es den Silberschmied nicht länger mehr in seiner Hütte. Er irrte durch die Berge und die tiefen Schluchten der Cordillere, jammernd und klagend, erfüllt von Wut und Verzweiflung.

Eines Nachts kam er, ohne daß es in seinem Willen lag, wieder in die Gegend seines Dorfes und mußte die Baumbrücke überschreiten, von der er die alte Frau, die seine leibhaftige Mutter gewesen war, in die Schlucht hinabgeworfen hatte. Und die Brücke brach unter ihm zusammen und ließ ihn in die nämliche Tiefe stürzen, zu den kochenden Stromschnellen, die sein Opfer begraben hatten.

Seine Hütte im Dorf aber zerfiel. Doch der schimmernde Steinblock blieb stehen. Er steht noch immer an der Landstraße, gleich den vielen anderen Apachetas in dieser Gegend, den Kristallblöcken, die der Pacha mama heilig sind, weil aus ihnen, bis auf den heutigen Tag, die Tränen des Mitleids und des tiefen Schmerzes einer Mutter schimmern.

Mittwoch, Januar 11, 2006

Der beherzte Flötenspieler



Es war einmal ein lustiger Musikant, der die Flöte meisterhaft spielte; er reiste daher in der Welt herum, spielte auf seiner Flöte in Dörfern und in Städten und erwarb sich dadurch seinen Unterhalt. So kam er auch eines Abends auf einen Pächtershof und übernachtete da, weil er das nächste Dorf vor einbrechender Nacht nicht erreichen konnte. Er wurde von dem Pächter freundlich aufgenommen, musste mit ihm speisen und nach geendigter Mahlzeit einige Stücklein auf seiner Flöte vorspielen. Als dieses der Musikant getan hatte, schaute er zum Fenster hinaus und gewahrte in kurzer Entfernung bei dem Scheine des Mondes eine alte Burg, die teilweise in Trümmern zu liegen schien. »Was ist das für ein altes Schloss? « fragte er den Pächter. »Und wem hat es gehört? « Der Pächter erzählte, dass vor vielen, vielen Jahren ein Graf da gewohnt hätte, der sehr reich, aber auch sehr geizig gewesen wäre. Er hätte seine Untertanen sehr geplagt, keinem armen Menschen ein Almosen gegeben und sei endlich ohne Erben (weil er aus Geiz sich nicht einmal verheiratet habe) gestorben. Darauf hätten seine nächsten Anverwandten die Erbschaft in Besitz nehmen wollen, hätten aber nicht das geringste Geld gefunden. Man behaupte daher, er müsse den Schatz vergraben haben und dieser möge heute noch in dem alten Schloss verborgen liegen. Schon viele Menschen wären des Schatzes wegen in die alte Burg gegangen, aber keiner wäre wieder zum Vorschein gekommen. Daher habe die Obrigkeit den Eintritt in dies alte Schloss untersagt und alle Menschen im ganzen Lande ernstlich davor gewarnt. Der Musikant hatte aufmerksam zugehört, und als der Pächter seinen Bericht geendigt hatte, äußerte er, dass er großes Verlangen habe, auch einmal hinein zu gehen, denn er sei beherzt und kenne keine Furcht. Der Pächter bat ihn aufs dringendste und endlich schier fußfällig, doch ja sein junges Leben zu schonen und nicht in das Schloss zu gehen. Aber es half kein Bitten und Flehen, der Musikant war unerschütterlich.

Zwei Knechte des Pächters mussten ein Paar Laternen anzünden und den beherzten Musikanten bis an das alte schaurige Schloss begleiten. Dann schickte er sie mit einer Laterne wieder zurück, er aber nahm die zweite in die Hand und stieg mutig eine hohe Treppe hinan. Als er diese erstiegen hatte, kam er in einen großen Saal, um den ringsherum Türen waren. Er öffnete die erste und ging hinein, setzte sich an einen darin befindlichen altväterischen Tisch, stellte sein Licht darauf und spielte die Flöte. Der Pächter aber konnte die ganze Nacht vor lauter Sorgen nicht schlafen und sah öfters zum Fenster hinaus. Er freute sich jedes Mal unaussprechlich, wenn er drüben den Gast noch musizieren hörte. Doch als seine Wanduhr elf schlug und das Flötenspiel verstummte, erschrak er heftig und glaubte nun nicht anders, als der Geist oder der Teufel, oder wer sonst in diesem Schlosse hauste, habe dem schönen Burschen nun ganz gewiss den Hals umgedreht. Doch der Musikant hatte ohne Furcht sein Flötenspiel abgewartet und gepflegt; als aber sich endlich Hunger bei ihm regte, weil er nicht viel bei dem Pächter gegessen hatte, so ging er in dem Zimmer auf und nieder und sah sich um. Da erblickte er einen Topf voll ungekochter Linsen, auf einem andern Tische standen ein Gefäß voll Wasser, eines voll Salz und eine Flasche Wein. Er goss geschwind Wasser über die Linsen, tat Salz daran, machte Feuer in dem Ofen an, weil auch Holz dabei lag, und kochte sich eine Linsensuppe. Während die Linsen kochten, trank er die Flasche Wein leer, und dann spielte er wieder Flöte. Als die Linsen gekocht waren, rückte er sie vom Feuer, schüttete sie in die auf dem Tische schon bereitstehende Schüssel und aß frisch darauf los. Jetzt sah er nach seiner Uhr, und es war um die zwölfte Stunde. Da ging plötzlich die Türe auf, zwei lange schwarze Männer traten herein und trugen eine Totenbahre, auf der ein Sarg stand. Diesen stellten sie, ohne ein Wort zu sagen, vor den Musikanten, der sich keineswegs im Essen stören ließ, und gingen ebenso lautlos, wie sie gekommen waren, wieder zur Türe hinaus. Als sie sich nun entfernt hatten, stand der Musikant hastig auf und öffnete den Sarg. Ein altes Männchen, klein und verhutzelt, mit grauen Haaren und grauem Barte lag darinnen, aber der Bursche fürchtete sich nicht, nahm es heraus, setzte es an den Ofen, und kaum schien es erwärmt zu sein, als sich schon Leben in ihm regte. Er gab ihm hierauf Linsen zu essen und war ganz mit dem Männchen beschäftigt, ja fütterte es wie eine Mutter ihr Kind. Da wurde das Männchen ganz lebhaft und sprach zu ihm: »Folge mir! « Das Männchen ging voraus, der Bursche aber nahm seine Laterne und folgte ihm sonder Zagen. Es führte ihn nun eine hohe verfallene Treppe hinab, und so gelangten endlich beide in ein tiefes schauerliches Gewölbe.

Hier lag ein großer Haufen Geld. Da gebot das Männchen dem Burschen: »Diesen Haufen teile mir in zwei ganz gleiche Teile, aber dass nichts übrig bleibt, sonst bringe ich dich ums Leben! « Der Bursche lächelte bloß, fing sogleich an zu zählen auf zwei große Tische herüber und hinüber und brachte so das Geld in kurzer Zeit in zwei gleiche Teile, doch zuletzt - war noch ein Kreuzer übrig. Der Musikant besann sich kurz, nahm sein Taschenmesser heraus, setzte es auf den Kreuzer mit der Schneide und schlug ihn mit einem dabei liegenden Hammer entzwei. Als er nun die eine Hälfte auf diesen, die andere auf jenen Haufen warf, wurde das Männchen ganz heiter und sprach: »Du himmlischer Mann, du hast mich erlöst! Schon hundert Jahre muss ich meinen Schatz bewachen, den ich aus Geiz zusammengescharrt habe, bis es einem gelingen würde, das Geld in zwei gleiche Teile zu teilen. Noch nie ist es einem gelungen, und ich habe sie alle erwürgen müssen. Der eine Haufen Geld ist nun dein, den andern aber teile unter die Armen. Göttlicher Mensch, du hast mich erlöst! « Darauf verschwand das Männchen. Der Bursche aber stieg die Treppe hinan und spielte in seinem vorigen Zimmer lustige Stücklein auf seiner Flöte.

Da freute sich der Pächter, dass er ihn wieder spielen hörte, und mit dem frühesten Morgen ging er auf das Schloss (denn am Tage durfte jedermann hinein) und empfing den Burschen voller Freude. Dieser erzählte ihm die Geschichte, dann ging er hinunter zu seinem Schatz, tat wie ihm das Männchen befohlen hatte, und verteilte die eine Hälfte unter die Armen. Das alte Schloss aber ließ er niederreißen, und bald stand an der vorigen Stelle ein neues, wo nun der Musikant als reicher Mann wohnte.